Schaltkreis im Gehirn verantwortlich für Bewegungsaktivierung und Vermeidungsverhalten
Forschende identifizieren Nervenzellen in wenig erforschter Hirnregion
In einer wenig erforschten Hirnregion identifizierten WissenschaftlerInnen Nervenzellen, die das Stresshormon CRH (Corticotropin-releasing hormone) produzieren. Sie zeigten, dass das CRH dieser Region bei Reaktionsbereitschaft, Bewegungsaktivierung und Vermeidungsverhalten eine Rolle spielt. Die Erkenntnisse könnten für das Verständnis psychiatrischer Erkrankungen wichtig sein.
Jan Deussing, Forschungsgruppenleiter am Max-Planck-Institut für Psychiatrie (MPI), und sein Team haben im Gehirn von Mäusen eine Region identifiziert, in der Nervenzellen das Stresshormon CRH bilden. Diese so genannte IPACL-Region (lateral interstitial nucleus of the posterior limb of the anterior commissure) haben WissenschaftlerInnen bisher weitgehend ignoriert. Sie ist Teil der erweiterten Amygdala – einer Hirnregion, die zentral für Verhaltensweisen wie Angst ist. Man wusste nicht, welche Rolle das CRH aus diesem Teil des Gehirns spielt. Hingegen ist über das CRH aus der Hypothalamus-Hirnregion bekannt, dass es Teil der Stressachse ist, die zur Ausschüttung des Stresshormons Cortisol führt. „Wir wollten wissen, warum die IPACL-Neurone CRH produzieren. Wir nehmen die Maus als Modell, da die Hirnregionen zwischen Maus und Mensch vergleichbar sind. Die Mäuse haben wir gentechnisch so verändert, dass wir gezielt die IPACL-Neurone stimulieren können“, erklärt Deussing.
CRH löst Bewegungsaktivierung und Vermeidungsverhalten aus
Die Stimulation der IPACL-Neurone bewirkt, dass die Mäuse verstärkt ihre Umgebung erkunden, sie sind aufmerksamer und reaktionsbereiter, was sich unter anderem in einer verstärken motorischen Aktivität äußert. Auch das Stresshormon Corticosteron steigt an. Die WissenschaftlerInnen untersuchten, ob die Tiere die Aktivierung der IPACL-Neurone als angenehm oder unangenehm empfinden. Dazu trainierten sie mit den Mäusen folgendes Szenario: In einer Kammer einer Testapparatur stimulierten sie die IPACL-Neurone, in einer anderen nicht. Nach dem Training durften die Mäuse selber entscheiden, in welcher Kammer sie sich aufhalten wollten. Sie vermieden die Kammer, in der ihre IPACL-Neurone angeregt wurden, die Stimulation war ihnen also offensichtlich unangenehm. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Stimulation der IPACL-Neurone Empfindungen auslöst, die denen in einer Stresssituation ähnlich sind.
Durch diese Untersuchungen wussten Deussing und sein Team aber noch nicht, ob das CRH der IPACL-Neurone der Grund für die Verhaltensänderungen ist oder ob diese generell durch die Stimulation der Neurone ausgelöst wurde. Sie hemmten im ganzen Körper der Tiere bestimmte CRH-Rezeptoren. Die Stimulation der IPACL-Neurone löste daraufhin kein erhöhtes Erkundungsverhalten mehr aus. „Somit war uns klar, dass das CRH aus der IPACL-Region ursächlich für das Verhalten der Mäuse ist“, resümiert Deussing.
Drei Strukturen im Gehirn am CRH-Schaltkreis beteiligt
Die Nervenenden der IPACL-Neurone münden in der Substantia nigra (SN) des Mittelhirns. Diese Region ist wichtig für die Bewegung, beispielsweise geht sie bei der Parkinson-Krankheit mit als Erstes zugrunde. Das Team um Jan Deussing vermutete, dass das CRH der IPACL-Neurone an Zellen in genau dieser Region wirkt. Sie veränderten ihre Mäuse deshalb gentechnisch so, dass der CRH-Rezeptor nur in der SN ausgeschaltet war. Allerdings erkundeten diese Mäuse nach Stimulation der IPACL-Neurone weiterhin verstärkt ihre Umgebung. Das verwunderte das Team. „Als nächstes konzentrierten wir uns auf Neurone des externen Teils der Globus Pallidus-Region (GPe). Diese Neurone enthalten viele CRH-Rezeptoren und ihre Nervenenden münden auch in der SN. Gewöhnlich sitzt der CRH-Rezeptor am Körper der Nervenzellen und an deren Fortsätzen, bei den GPe-Neuronen hingegen an den Nervenenden“, so Deussing. Das Team schaltete den Rezeptor in GPe-Neuronen aus. Dadurch waren die Nager nach der Stimulation der IPACL-Neurone nicht mehr verstärkt erkundungsbereit. Das CRH der IPACL-Neurone vermittelt seine Effekte also über die GPe-Neurone. „Wir konnten erstmals einen CRH-Schaltkreis in den Hirnregionen IPACL, SN und GPe aufzeigen, der für die Bewegungsaktivierung und das Vermeidungsverhalten eine Rolle spielt“, schließt Deussing.
Die Ergebnisse, die kürzlich in „Science Advances“ veröffentlicht wurden, könnten für das Verständnis psychiatrischer Erkrankungen relevant sein. Bei Angsterkrankungen, posttraumatischer Belastungsstörung oder Depression können Reaktionen wie Vermeidungsverhalten und Reaktionsbereitschaft gestört sein. „Es könnte sein, dass der von uns entdeckte CRH-Schaltkreis einen Teil dieses Verhaltens steuert“, spekuliert Deussing.