Psychische Erkrankungen als Störungen der sozialen Interaktion
Forschungsbericht (importiert) 2015 - Max Planck Institut für Psychiatrie
Soziale Interaktion und seelische Gesundheit
Verschiedenste psychische Erkrankungen haben Einfluss auf die Fähigkeit, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten. Umgekehrt können auch Schwierigkeiten im zwischenmenschlichen Kontakt das Auftreten von psychischen Erkrankungen begünstigen [1]. Probleme in sozialen Beziehungen können z. B. entstehen, wenn Personen die Gestik und Mimik anderer Menschen nicht richtig deuten können und es dadurch zu Missverständnissen kommt. Andere Personen wiederum reagieren sehr stark auf solche nonverbalen Signale und empfinden diese als so unangenehm, dass sie sich aufregen und/oder sich zurückziehen. Für manche Personen wiederum stellt „Small Talk“ ein besonderes Problem dar und wieder andere meinen zu bemerken, dass sie keinen Einfluss auf andere Personen haben und dass deshalb soziale Interaktionen unbefriedigend verlaufen. Außerdem können Störungen der sozialen Interaktion auch darauf beruhen, dass Personen mit psychischen Erkrankungen nicht in der Lage sind, die normalerweise bestehenden impliziten Übereinkünfte und Regeln der sozialen Interaktion zu befolgen, was wiederum zu negativen Reaktionen auf der Seite von Nicht-Erkrankten und einer weiteren Symptomverstärkung führen kann.
Andererseits existieren Hinweise, dass das Gelingen von sozialer Interaktion und Beziehungen maßgeblich von Ähnlichkeiten der Interaktionspartner abhängt, welche sowohl Persönlichkeitsvariablen als auch das Vorliegen von psychiatrischen Diagnosen sein können [2]. Mit anderen Worten: Es kann auch im Falle einer sozialen Interaktionsstörung, wie zum Beispiel Autismus, dazu kommen, dass soziale Interaktion gut gelingt, nämlich dann, wenn es sich um zwei Personen mit Autismus handelt. Soziale Kontakte können somit – je nach interindividueller Passung – sowohl einen bedeutsamen Stressfaktor als auch einen protektiven, also schützenden Faktor darstellen. Vor dem Hintergrund anwachsender Prävalenzzahlen für psychische Erkrankungen und einer globalen Zunahme von urbanen Lebensverhältnissen mit einer wachsenden Anzahl von sozialen Kontakten gewinnt diese Dimension psychischer Erkrankungen auf brisante Art und Weise weitere Bedeutung.
Das Team der unabhängigen Forschungsgruppe "Soziale Neurowissenschaft" am MPI für Psychiatrie geht davon aus, dass man durch neurowissenschaftliche Untersuchungen der Mechanismen von sozialer Interaktion einen wichtigen Beitrag leistet, um psychische Erkrankungen als Störung der sozialen Interaktion zu rekonstruieren und ihre neurobiologischen Grundlagen zu untersuchen. Ein solcher Brückenschlag zwischen psychiatrischen und neurowissenschaftlichen Aspekten erscheint vor dem Hintergrund des Gehirns als Interface oder „Beziehungsorgan“ der Beeinflussung von internen und externen Faktoren besonders erstrebenswert [3].
Neurowissenschaft des Du
Seit den 1990er Jahren untersuchen Neurowissenschaftler die neuronalen Mechanismen von sozialen Prozessen [4]. In diesem Bereich der „sozialen“ Neurowissenschaften wurden seitdem unter Verwendung von funktionell hirnbildgebenden Verfahren, wie vor allem der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT), maßgebliche Beiträge geleistet, um die zugrundeliegenden Hirnprozesse von sozialer Wahrnehmung und Kognition zu charakterisieren. Hierbei scheinen vor allem zwei Gehirnnetzwerke relevant zu sein: zum einen das so genannte „Spiegelneuronen-System“ und zum anderen das so genannte „Mentalisierungsnetzwerk“. Hierbei handelt es sich um Hirnnetzwerke, die z. B. dann aktiviert werden, wenn Menschen die Handlungen anderer beobachten (oder vergleichbare Handlungen nachahmen) bzw. wenn Menschen über die mentalen Zustände anderer nachdenken. Mit anderen Worten: Die neuronalen Korrelate von sozialer Wahrnehmung aus der „Beobachterperspektive“ sind recht gut charakterisiert. Sehr viel weniger gut verstanden aber ist, welchen Einfluss die Teilnahme an sozialer Interaktion – also soziale Wahrnehmung aus der „Teilnehmerperspektive“, die im Alltag vermutlich sehr viel größere Bedeutung hat – auf die Aktivität in den beiden Netzwerken hat [5]. Auch das Verhältnis von sozialer Wahrnehmung aus der „Beobachterperspektive“ und der „Teilnehmerperspektive“ und den jeweils zugrundeliegenden Hirnprozessen ist bisher nicht gut untersucht [6].
Diese Einschränkungen im Bereich der sozialen Neurowissenschaften sind unter anderem durch methodische Limitationen erklärt: So ist die Untersuchungssituation im Rahmen von Bildgebungsstudien mittels funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRT) stark eingeschränkt: sie erlaubt in der Regel nur die Untersuchung einer Person, die möglichst bewegungslos im Kernspintomographen liegt. Eine „Zweite-Person-Neurowissenschaft“ [5] wiederum schlägt vor, die sozialen Neurowissenschaften so weiterzuentwickeln, dass sie tatsächlich zur Untersuchung der neuronalen Mechanismen von sozialer Interaktion beitragen können. Sie zielt darauf ab, die Gehirnprozesse einer sich in Interaktion befindenden Person (im Gegensatz zu einer Person, die andere Personen nur beobachtet) zu untersuchen. Neurowissenschaftlich ist dabei ein erklärtes Ziel dieses Ansatzes, herauszufinden, wie die Teilnahme an sozialer Interaktion die Gehirnnetzwerk-Aktivitäten moduliert, welche Rolle der Verlauf und die im Rahmen von sozialer Interaktion gemachten Erfahrungen auf Netzwerkprozesse haben und wie sie diese verändert. Mit anderen Worten ist es das Ziel einer „Neurowissenschaft des Du“, die neurobiologische Verankerung von psychosozialen Erfahrungen im Rahmen von sozialer Interaktion zu untersuchen.
Ein Ansatz, der in der unabhängigen Max-Planck-Forschungsgruppe verfolgt wird, besteht darin, interaktive Echtzeitaufgaben zu erstellen, so dass sich der Einfluss der Wechselseitigkeit sozialer Interaktion auf die Hirnprozesse einer Person untersuchen lässt: Zu diesem Zweck können die Augenbewegungen eines Versuchsteilnehmers im Kernspintomographen in Echtzeit ausgewertet und verwendet werden, damit ein computergenerierter Agent, der dem Versuchsteilnehmer auf einem Bildschirm gezeigt wird, in Echtzeit auf den Versuchsteilnehmer „reagiert“ (Abb. 1A). So reagiert das Gesicht auf dem Präsentationsbildschirm z. B. darauf, ob es von dem Versuchsteilnehmer angeschaut wird oder nicht und ob der Versuchsteilnehmer andere Objekte auf dem Bildschirm anschaut. Dieser Versuchsaufbau kann beispielsweise genutzt werden, um die Hirnprozesse von „gemeinsamer Aufmerksamkeit“ zu untersuchen. Das heißt, es lässt sich die Frage stellen, ob es auf der Ebene des Gehirns einen Unterschied macht, ob man Objekte „allein“ oder „gemeinsam“ mit einer anderen Person anschaut. Interessanterweise konnten die Wissenschaftler zeigen, dass die gemeinsame Betrachtung von Objekten zu Aktivierungen von Gehirnregionen des „Mentalisierungsnetzwerkes“ führt, obgleich ein bewusstes Nachdenken über die mentalen Zustände des anderen in der Aufgabe nicht notwendig war (Abb. 1B, [7]). Darüber hinaus zeigte sich, dass die Initiierung von gemeinsamer Aufmerksamkeit – also wenn es dem Probanden gelang, den Blick des anderen auf ein Objekt zu lenken – das Belohnungssystem“ des Gehirns aktivierte (Abb. 1C), was wiederum mit dem subjektiven Erleben der Situation als besonders angenehm im Zusammenhang stand. Vergleichbare Effekte fanden sich nicht, wenn der andere den Blick des Probanden führte.
Diese und andere Studien weisen also darauf hin, dass die Berücksichtigung der Wechselseitigkeit von sozialer Interaktion, welche Interaktionsprozesse im Alltag kennzeichnet, neue Erkenntnisse im Bereich der Neurowissenschaft möglich macht. Außerdem trägt sie zu einer Charakterisierung der Hirnnetzwerke und Mechanismen bei, die für soziale Wahrnehmung und Kognition aus der „Teilnehmerperspektive“ relevant sind. Diese Weiterentwicklung der neuronalen Wissenschaft könnte auch besonders hilfreich sein, so argumentieren Schilbach und Kollegen, wenn es darum geht, diesen Bereich auch zur Erforschung der neurobiologischen Grundlagen psychischer Erkrankungen voll auszuschöpfen. Dies liege darin begründet, dass verschiedenste psychische Erkrankungen mit sozialen Beeinträchtigungen einhergehen. Diese Beeinträchtigungen wiederum betreffen eher die soziale Wahrnehmung aus der „Teilnehmerperspektive“ als die soziale Wahrnehmung aus der „Beobachterperspektive, welche oftmals relativ intakt ist [1].
Psychische Erkrankungen als Störungen der sozialen Interaktion am Beispiel von Abhängigkeitserkrankungen
Abhängigkeitserkrankungen werden nicht typischerweise als Störungen der sozialen Interaktion beschrieben. Gleichwohl ist die Vernachlässigung von sozialen (und anderen) Interessen zugunsten des Substanzkonsums ein wichtiges Kriterium für die Diagnose einer Störung durch psychotrope, das heißt die Psyche des Menschen beeinflussende Substanzen. Im Falle von Kokainmissbrauch und -abhängigkeit handelt es sich um eine Gruppe von Personen, die in nicht-interaktiven Tests der sozialen Kognition kaum Beeinträchtigungen aufweist. Andererseits zeigen Patienten mit Kokainabhängigkeit aus klinischer Perspektive eine deutlich reduzierte Motivation für soziale Kontakte, was sich auch in der Größe ihrer sozialen Netzwerke widerspiegelt, und ein stark selbstbezogenes Verhalten.
Hinsichtlich der denkbaren zugrundeliegenden neurofunktionellen Veränderungen durch Kokaineinfluss sind Veränderungen des „Belohnungssystems“ des Gehirns postuliert worden. Konkret wurde angenommen, dass Kokainkonsum dazu führt, dass das Belohnungssystem weniger ansprechbar für andere (z. B. soziale) Belohnungsreize wird. Um dies empirisch zu untersuchen, wurde das oben beschriebene, interaktionsbasierte fMRT-Experiment zur „gemeinsamen Aufmerksamkeit“ eingesetzt [8]. Hierbei zeigte sich, dass Kokain-Konsumenten im Rahmen von sozialer Interaktion tatsächlich Minderaktivierungen im Bereich des „Belohnungssystems“ aufweisen und dass ein Zusammenhang besteht zwischen der verminderten Ansprechbarkeit des „Belohnungssystems“ und der verminderten Größe des sozialen Netzwerkes (Abb. 2C). Letzteres ist umso bedeutsamer, da therapeutische Interventionen darauf abzielen, Patienten in ihrem realen Umfeld zu unterstützen.
Zusammenfassung und Ausblick
Psychische Erkrankungen haben Einfluss auf die Fähigkeit, mit anderen Menschen in Interaktion zu treten und Teilnehmer von sozialen Netzwerken zu sein. Umgekehrt können auch Schwierigkeiten im zwischenmenschlichen Kontakt das Auftreten von psychischen Erkrankungen begünstigen. Das Verständnis psychischer Erkrankungen kann somit durch die Berücksichtigung von Aspekten der sozialen Wahrnehmung und insbesondere der sozialen Interaktion wesentlich bereichert werden.
Aus dieser Rekonstruktion von psychischen Erkrankungen als Störungen der sozialen Interaktion ergeben sich auch neue Perspektiven für die so genannte „soziale“ Neurowissenschaft: Hier erscheint wünschenswert, dass Limitationen überwunden werden, um die neuronalen Mechanismen von Teilnahme an sozialer Interaktion in Echtzeit und unter Alltagsbedingungen zu erforschen. Neben dem grundlagenwissenschaftlichem Erkenntniszuwachs könnten diese Weiterentwicklungsschritte im Bereich der Neurowissenschaft hilfreich sein, damit dieser Forschungsbereich sein Potenzial zur Erforschung der neurobiologischen Grundlagen psychischer Erkrankung voll ausschöpft.
So könnte interaktionsbasierte, funktionelle Hirnbildgebung helfen, störungsassoziierte, Veränderungen der Hirnaktivität bei Personen mit psychischen Erkrankungen zu untersuchen, die im Zusammenhang stehen mit der Fähigkeit und Motivation zur tatsächlichen Teilnahme an sozialen Interaktionen. Zukünftig könnte diese interaktionsbasierte funktionelle Hirnbildgebung, die Wissenschaftler am MPI für Psychiatrie einsetzen, bei der Auswahl und Verbesserung von Therapien psychischer Erkrankungen weiterhelfen.
Literaturhinweise
Philosophical Transactions of the Royal Society B. 371 (1686) pii: 20150081. doi: 10.1098/rstb.2015.0081 (2016)
Frontiers in Human Neuroscience 8, 278 (2014)
Proceedings of the National Academy of Sciences USA 111(7), 2842-2847 (2014)